Vernachlässigte Kinder - Wissenschaftliche Erkenntnisse und Handlungskonzepte für Kindertageseinrichtungen

im Auftrag des Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS) Baden-Württemberg

Die aktuelle Diskussion zur Vernachlässigung von Kindern hat das Landesjugendamt des Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg veranlasst, im Rahmen eines Projekts zwei Fragen nachzugehen:

  • (a) Gibt es verlässliche Zahlen zum Anteil der vernachlässigten Kinder in Baden-Württemberg?
  • (b) Wie können die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen für Anzeichen solcher Vernachlässigungen sensibilisiert werden, die eine ernsthafte Gefährdung des Kindeswohls bedeuten und weitergehende Schritte erforderlich machen?

Desweiteren sollte Erzieherinnen in Kindertageseinrichtungen Handwerkszeug an die Hand geben werden, mit dessen Hilfe sie Anzeichen von gewichtiger Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung besser erkennen und ihr Handeln danach ausrichten können. Dieses Projekt steht in engem Zusammenhang mit dem Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII, in den auch Kindertageseinrichtungen eingebunden sind und in dessen Rahmen unter anderem Vereinbarungen mit den Jugendämtern abgeschlossen werden, um im Einzelfall angemessen reagieren zu können.

Wesentliche Ergebnisse der FVM-Studie, die mit Hilfe von 166 Leiterinnenbefragungen, Experteninterviews, Literaturrecherchen und der Auswertung vorhandener statistischer Daten gewonnen wurden, sind:

  • (a) Die Erzieherinnenbefragung offenbarte, dass es keiner der Erzieherinnen möglich war, das gesamte Vernachlässigungsspektrum zu benennen. 30 % der Erzieherinnen erfassten sogar nur ein bis zwei Vernachlässigungsbereiche. Die genannten Aspekte konzentrierten sich zudem vor allem auf körperliche Merkmale, emotionale Vernachlässigung spielte eine untergeordnete Rolle. Es scheint also einen Aufklärungsbedarf zu geben, den z. B. eine Einschätzskala zur Erfassung möglicher Kindeswohlgefährdung befriedigen könnte. Eine vorherige Schulung, die den Umgang mit der Skala und deren Inhalten trainiert, würde die Anwendungssicherheit für die Fachkräfte erhöhen. So hätten die Erzieherinnen eine größere Sicherheit, nichts Wesentliches aus den Augen zu verlieren und zwischen wesentlichen und unwesentlichen Merkmalen besser unterscheiden zu können.
  • (b) Mit dem Begriff "Vernachlässigung" wird ein passives Verhalten der Eltern bezeichnet, d.h. eine Untätigkeit in den Fällen, in denen die Elternpflichten ein Handeln zum Wohl des Kindes verlangen. Unterscheidung zwischen passiver (unbewusster) Vernachlässigung (z.B. mangelnde Einsicht, unzureichendes Wissen über Notwendigkeiten und Gefahrensituationen) und der aktiven Vernachlässigung (wissentliche Verweigerung z.B. von Nahrung und Schutz). Weiter ist eine Abgrenzung zwischen erzieherischem Fehlverhalten/unengagierter Fürsorge (unterhalb der Gefährdungsgrenze) und Vernachlässigung als einer Form der Kindeswohlgefährdung notwendig.
  • (c) Auf der Basis der gegenwärtig vorhandenen Daten zur Vernachlässigung kann keine, auch nur annähernd zuverlässige Abschätzung des tatsächlich vorhandenen quantitativen und qualitativen Umfangs an Kindesvernachlässigung in Baden-Württemberg vorgenommen werden. Um ein wirklich realistisches Bild der Anzahl der von Vernachlässigung bedrohten Kinder in Baden-Württemberg zu gewinnen, benötigt es umfangreiche, gut konzipierte und sorgfältige Erhebungen und Analysen, sowohl im durch Jugendämter bzw. soziale Dienste erreichbaren Hellfeld als auch im bislang völlig unbekannten Dunkelfeld. Dies wäre im Rahmen einer Machbarkeitsstudie zu prüfen und dabei gleichzeitig ein methodisches Setting für die anvisierte Datenerhebung zu entwickeln.
  • (d) Die Überprüfung bestehender Einschätzskalen offenbarte, dass im Bereich der Früherkennung von Vernachlässigung im Kindergarten noch kein etabliertes und validiertes Messinstrument für Deutschland vorliegt. Es wurde daher unter Einbeziehung der vorhandenen Skalen eine eigene Einschätzskala für die Verwendung in Kindertageseinrichtungen (KiWo-Skala Kita) mit einem Ablaufschema entwickelt, die zur Erprobung in der Praxis zur Verfügung steht.

Haug-Schnabel, G., Bensel, J., Prill, T., von Stetten, S., Apponyi-Schäble, E. (2008). "Vernachlässigte Kinder" - wissenschaftliche Erkenntnisse und Handlungskonzepte für Kindertageseinrichtungen. Wissenschaftliche Recherche und Analyse der Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen (FVM) im Auftrag des KVJS Baden-Württemberg, Stuttgart. Kandern: FVM.

Langfassung:
http://www.verhaltensbiologie.com/forschen/vernachlaessigt_langbericht.pdf
Kurzfassung:
http://www.verhaltensbiologie.com/forschen/vernachlaessigt_kurzbericht.pdf